Stadtrats-Blog von Heinrich Jüstel: Als Urlaubslektüre empfehle ich Joachim Meyerhoff

09. August 2016

Dreiteiler schrecken zugegebenermaßen meistens ab. Nicht so bei Joachim Meyerhoffs Tribologie „Alle Toten fliegen hoch“ „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, und der (vorerst?) letzte Teil „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“. Drei Romane, die aufeinander aufbauen, aber unabhängig voneinander, in welcher Reihenfolge auch immer, gelesen werden können.

In seinem zweiten Roman, der von der Historie her der erste ist, schildert Meyerhoff, wie er als Sohn eines Direktors einer Jugend- und Kinderpsychiatrie zusammen mit zwei Brüdern in der mitten im Psychiatriegelände stehenden Direktorenvilla zwischen körperlich und geistig Behinderten aufwuchs. Auf die Frage „ist das normal?“ stellt sich dem geneigten Leser sofort die nächste Frage, ob damit die geistig Behinderten gemeint sind oder nicht eher das Ehe- und Familienleben der Meyerhoffs. Sein Vater, ein Arzt, dem seine Patienten näherstanden als die Menschen draußen; einschließlich seiner eigenen Frau. Zum jährlichen Geburtstagskaffeekränzchen lud Hermann Meyerhoff nicht Freunde, Verwandte oder Kollegen ein, sondern harmlose Irre wie den kindlich-neugierigen Dietmar, die ohne Punkt und Komma redende Margret (“Ohhsiehtderkuchenleckerausichglaubichwerdnichtmehr“) oder Ludwig, der immer den Hund streicheln wollte, vor dem er so viel Angst hatte.

Der human-integrative Umgang mit den Kranken machte den „Wahnsinns-Ort“ auch für seinen jüngsten Sohn zu einem Heim „selbstverständlicher Normalität“. Das hyperaktive, jähzornige Nesthäkchen hieß unter Brüdern nur der „Wasserkopf“ oder wegen seiner Unberechenbarkeit bei Wutausbrüchen, „Die blonde Bombe“. Schon das schuf eine gewisse Verzweiflungsverwandtschaft mit den 1500 „Psychos“, „Mongos“, „Blödies“ und „Spastis“, die für die Kinder Spielkameraden, Lehrer, Vertraute und jedenfalls Familienmythen waren.

In „Alle Toten fliegen hoch“ schildert er seine Erlebnisse als angeblicher Stipendiat. Tatsächlich haben seine wohlbetuchten Großeltern den einjährigen Aufenthalt in Wyoming, der tiefsten amerikanischen Provinz, finanziert. Alles an diesem Buch ist echt: Von der Geschichte bis zu den Fotos auf dem Cover.

Von der ersten Seite an folgt der Leser gebannt Meyerhoffs jugendlichem Helden, der sich aufmacht, einen der begehrten Plätze in einer amerikanischen Gastfamilie zu ergattern. Aber schon beim Auswahlgespräch in Hamburg werden ihm die Unterschiede zu den weltläufigen Großstadt-Jugendlichen und ihm, der aus einer schleswig-holsteinischen Kleinstadt stammt, schmerzlich bewusst. Konsequent gibt er sich im alles entscheidenden Fragebogen als genügsamer, naturbegeisterter und streng religiöser Kleinstädter aus – und findet sich bald darauf in Laramie, Wyoming, wieder, mit Blick auf die Prärie, Pferde und die Rocky Mountains.

Der drohende Kulturschock bleibt erst mal aus, der Stundenplan ist abwechslungsreich, die Basketballsaison steht bevor, doch dann reißt ein Anruf aus der Heimat ihn wieder zurück in seine Familie nach Norddeutschland – und in eine Trauer, der er nur mit einem erneuten Aufbruch nach Amerika begegnen kann. Einer der beiden Brüder war tödlich verunglückt, er fliegt zurück nach Deutschland zur Beerdigung und zu seinem andern Bruder, den er den „übrig gebliebenen Bruder“ nennt. Köstliche Darstellung des amerikanischen Kleinstadtlebens mit Witz und Charme ohne belehrend oder verletzend zu sein.

Den dritten Roman „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ schildert Meyerhoff selbst: “Mit zwanzig wurde ich zu meiner großen Überraschung in München auf einer Schauspielschule angenommen und zog, da ich kein Zimmer fand, bei meinen Großeltern ein. Diese beiden Welten hätten unterschiedlicher nicht sein können. Davon will ich erzählen: von meinen über alles geliebten Großeltern, gemeinsam gefangen in ihrem wunderschönen Haus, und davon, wie es ist, wenn einem gesagt wird: ‚Du musst lernen, mit den Brustwarzen zu lächeln‘.

Alkohol spielte im Leben der mondänen Großeltern eine wichtige, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle. Der Tag begann für die Stimme mit einer hochprozentigen Gurgellösung, die nie ausgespuckt wurde, dann gab es für den Kreislauf Champagner und nie vor 18:00 Uhr, dann aber war bis zum Zubettgehen „Whisky-Zeit“

Köstlich die Schilderung der einzelnen Ausbildungsstationen und exemplarisch die Reaktion der Großeltern, zur ersten Rolle, den „Mortimer“ aus „Maria Stuart“:
„Als ich das meiner Großmutter beiläufig erzählte, sah sie mich an, als hätte ich eine Ungeheuerlichkeit preisgegeben. „Was? Den Mortimer! Wirklich?“ Wie so oft wusste ich im ersten Moment nicht, ob sie das, was ich gesagt hatte, grauenhaft oder grandios fand. Sie rief die Treppe hoch. „Hermann? Hermaaaan? Er macht den Mortimer. Den Mortimer!“ Mein Großvater kam an den oberen Treppenabsatz. „Habe ich richtig gehört? Den Mortimer?“ „Oh ja, das hast du. Mooooahhhh, der Mortimer“. Sie stand unten, kreuzte die Handflächen über der Brust, atmete tief ein und aus. „Den Mortimer! Mein Gott, Junge, den Mortimer!“ „Glückwunsch!“ rief mein Großvater von oben und strahlte so beseelt, als hätte er gerade das Z seines Staatslexikons abgeschlossen. Dann spielte die Oma, eine ehemalige Schauspielerin die gesamte Szene vor. „Meine Großmutter brannte und knisterte lichterloh vor Begeisterung, ihre Wangen glühten …. Mein Großvater kam betont ehrfurchtsvoll ins Wohnzimmer hereingeschlichen und flüsterte: „Macht sie dir den Mortimer?“ Ich nickte wehrlos … Nach ein paar Sekunden sackte sie erschöpft in ihrem Sessel zusammen …Mein Großvater: „Inge das war sehr unvernünftig von dir. Du musst besser auf dich achtgeben“. Sie öffnete die Augen, sah meinen Großvater lange an, und angewidert kanzelte sie ihn ab: „Ach lass mich doch zufrieden! Du mit deiner ewigen Vernunft.“

Alle drei Bücher sind, sofern nicht vergriffen in der Stadtbücherei im Falkenhaus ausleihbar.

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